Genotyp-Zuerst: Voraussage genetisch bedingter Erkrankungen. Ein neuer Ansatz?

Genotyp-Zuerst: Voraussage genetisch bedingter Erkrankungen. Ein neuer Ansatz?

Last Updated on January 14, 2023 by Joseph Gut – thasso

13. Januar 2023 – In der heutigen Präzisions- und/oder zielgerichteten Medizin beginnen Ärzte in der Regel mit der Bestimmung der phänotypischen Ausprägung einer Krankheit (d. h. der Erstellung eines klinischen Befunds) und fahren dann mit der Ermittlung des genetischen Hintergrunds des Patienten fort ( d.h. genetischer Variationen darin), welcher (an der Basis) für den identifizierten Phänotyp des Patienten/der Krankheit verantwortlich sein könnte. Dies wäre der aktuelle Forschungspfad vom „Phänotyp-zu-Genotyp“. Es ist jedoch vorstellbar, diesen Weg umzukehren und stattdessen einen „Genotyp-zu-Phänotyp“-Weg zu finden. Somit würde man bei einem solchen Ansatz genomische Varianten erfolgreich zu genetisch basierten Erkrankungen bei Patienten zurückverfolgen. Dieses Konzept würde möglicherweise die reaktive Medizin in eine proaktive/präventive Medizin umwandeln.

Tatsächlich haben Forscher des US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) in diesem Sinne gerade eine Bewertung von 13 Studien veröffentlicht, die einen sogenannten „Genotyp-Zuerst“-Ansatz für die Patientenversorgung verfolgten, was an sich schon eine Revolution darstellen würde in der Alltagsmedizin. In diesen Studien wurden Patienten mit spezifischen Genomvarianten ausgewählt und dann auf ihre Merkmale und Symptome untersucht. Die Ergebnisse deckten neue Beziehungen zwischen Patientengenen und klinischen Zuständen auf, erweiterten die Merkmale und Symptome, die mit bekannten Erkrankungen verbunden sind, und boten Einblicke in neu beschriebene Erkrankungen.

Laut Dr. Wilczewski vom National Human Genome Research (NHGRI) und Erstautor hat die vorliegende Studie gezeigt, dass „Genotyp-Zuerst“-Forschung nützlich ist, insbesondere um Menschen mit seltenen Erkrankungen zu identifizieren, die andernfalls möglicherweise nicht klinisch erkannt worden wären. Die veröffentlichte Studie dokumentiert drei Arten von Entdeckungen aus einem „Genotyp-Zuerst“-Ansatz. Erstens half den Forschern dieser Ansatz, neue Beziehungen zwischen genomischen Varianten und spezifischen klinischen Merkmalen zu entdecken. Beispielsweise war das Vorhandensein von mehr als zwei Kopien des TPSAB1-Gens mit zuvor mit diesen Gen nicht bekannten Symptomen im Zusammenhang mit dem Magen-Darm-Trakt, dem Bindegewebe und dem Nervensystem verbunden. Zweitens half dieser Ansatz den Forschern, neue Symptome im Zusammenhang mit einer Störung zu finden, die Kliniker zuvor übersehen hatten, weil der Patient nicht die typischen Symptome hatte. NHGRI-Forscher identifizierten eine Person mit einer genomischen Variante, die mit einer bekannten Stoffwechselstörung assoziiert ist. Weitere Tests ergaben, dass die Person trotz nur geringfügiger Symptome hohe Konzentrationen bestimmter Chemikalien in ihrem Körper hatte, die mit der Störung in Verbindung gebracht wurden. Drittens ermöglichte dieser Ansatz den Forschern, die Funktion spezifischer Genomvarianten zu bestimmen, was das Potenzial hat, Klinikern dabei zu helfen, neu beschriebene Erkrankungen zu verstehen. Beispielsweise fanden NHGRI-Forscher und ihre Mitarbeiter in einer Studie heraus, dass eine genomische Variante mit einer Immundysfunktion auf molekularer Ebene in Blutzellen in Verbindung gebracht wurde.

Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass es in einem „Genotyp-Zuerst“-Konzept möglich sein könnte, das gesamte Spektrum an Symptomen und Krankheiten (offenkundige und seltene), für die genomische Varianten verantwortlich sein könnten, auszuschöpfen und kennenzulernen. Angesichts der Tatsache, dass Gene (oder ihre allelischen Varianten) und ihre kodierenden Proteine typischerweise an einer unbegrenzten Anzahl von biologischen Signalwegen beteiligt sind, sollte ein breites Spektrum an resultierenden Symptomen oder klinischen Phänotypen, die sogar von einer einzigen genetischen Variation bestimmt werden könnten, nicht allzu überraschend sein und sogar erwartet werden.

Genotyp-Zuerst

Um ein anerkannter Standard in der angewandten prädiktiven Medizin zu werden, verdeutlicht die Studie aber auch die Grenzen, die überwunden werden müssten. Daher verwendeten die 13 Studien, die einen Genotyp-First-Ansatz implementierten, genomische Daten aus dem Reverse Phenotyping Core des NHGRI im Center for Precision Health Research. Der Kern aggregiert Genomdaten aus Programmen wie ClinSeq(R) und dem Centralized Sequencing Protocol des National Institute of Allergy and Infectious Disease (NIAID), die zusammen die Durchführung von Analysen an mehr als 16.000 Forschungsteilnehmern ermöglichten, die sich einer Genom- oder Exomsequenzierung unterzogen haben. Alle diese Patienten/Studienteilnehmer stimmten einem breiten Austausch genomischer Daten und einer erneuten Kontaktaufnahme für zukünftige Forschungsarbeiten zu. Um „Genotype-first“ zu einem wirklich akzeptierten und produktiven Mittel der prädiktiven Medizin (also für Patienten und Ärzte gleichermaßen) zu machen, müssten einige Bedingungen erfüllt sein.

Erstens müssten Datenrahmen und Kernzentren für die Ärzte- und Patientengemeinschaften geöffnet werden und einen breiten Austausch genomischer und phänotypischer Daten mit der Möglichkeit bieten, die Teilnehmer erneut zu kontaktieren, die während des Einwilligungsverfahrens ausdrücklich angegeben wurden. Diese Zentren und ihre Prozesse müssten validiert, zugelassen und von den nationalen Gesundheitsbehörden kontrolliert werden.

Zweitens müssten die persönlichen Einwilligungsprozesse und die Weitergabe persönlicher genomischer und phänotypischer Daten ebenfalls von den Gesundheitsbehörden genehmigt werden. Dies in Kombination mit einer äußerst strengen Umsetzung von Datenschutzkontrollen. Die erneute Kontaktaufnahme und Rückverfolgung von Personen/Patienten wäre in diesem Zusammenhang ein äußerst heikles Thema und bedarf einer sehr strengen Regulierung.

Drittens erhalten immer mehr Personen/Patienten aus verschiedenen Gründen DNA-Sequenzierungs- oder Gesamtgenomanalysedaten (Direct-to-Consumer-Genetic-Testing). Diese individuellen Daten können unschätzbare Informationen über potenziell krankheitsauslösende genetische Varianten enthalten, von denen das jeweilige Individuum Träger ist, können diese jedoch nicht vorhersagend erkennen, da noch keine phänotypischen Symptome vorliegen. Daten-Frameworks und Kernzentren müssen in der Lage sein, die genetischen Daten solcher individuellen Patienten in ihre Frameworks zu integrieren (wiederum unter höchsten Datenschutzstandards), um in großangelegten Vergleichsanalysen versteckte oder seltene genetische Risikoallele zu finden, die die Träger tatsächlich oder in Zukunft bei offener oder seltener Krankheit sein (d. h. einen klinischen Phänotyp erzeugen).

Schließlich müssen auf rechtlicher und Kranken-/oder Lebensversicherungsebene Vorschriften entwickelt werden, um mit voraussichtlichen genombasierten Gesundheits- und/oder Krankheitsrisiken umzugehen, die auf einer großen Bevölkerungsbasis erkannt werden können, aber möglicherweise nie auf der Grundlage einer einzelnen Person materialisieren. Träger zu sein, macht Sie nicht schuldig oder zu einem tatsächlichen Krankheitsopfer.

Gesamt

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der neue Ansatz der Rückverfolgung von Genomvarianten bis hin zu genetischen Störungen (d. h. der Genotyp-First-Ansatz) sicherlich ein großes Potenzial hat. Im Moment vielleicht mehr im Bereich der klinischen Forschung als in der praktischen und angewandten Medizin und Patientenversorgung. Um der wahre Standard in der Genotyp-First-Prädiktions-/Präventivmedizin zu werden, die täglich angewendet wird und Klinikern, behandelnden Ärzten, und „zukünftigen Patienten“ gleichermaßen dient, sind noch einige große Anstrengungen erforderlich. Es kann leicht sein, dass eine genetische Variante unschuldig ist, bis ihre Schuld bewiesen ist.

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Professor in Pharmakologie und Toxikologie. Experte in theragenomischer und personalisierter Medizin und individualisierter Arzneimittelsicherheit. Experte in Pharmako- und Toxiko-Genetik. Experte in der klinischen Sicherheit von Arzneimitteln, Chemikalien, Umweltschadstoffen und Nahrungsinhaltsstoffen.

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