Wie gefährlich ist die Antibabypille?

Wie gefährlich ist die Antibabypille?

Last Updated on January 15, 2016 by Joseph Gut – thasso

 21. Dezember 2015 – Kann die Einnahme der Antibabypille unfruchtbar machen und sogar tödlich sein?  Das ist die Frage, welche in den letzten Tagen von neuem in verschiedenen Medien, vor allem in Deutschland, diskutiert wurde. Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig, und hängt wie immer in solchen Fällen, extrem vom Standpunkt oder vom Schicksal der Betroffenen ab.

Ja, sagt eine junge betroffene Frau aus Deutschland, welche das  Produkt „Yasminelle”, den Wirkstoff Drospirenon enthaltend, nahm und eine fast tödlich verlaufende Lungenembolie erlitt, aufgrund deren Folgeschäden sie nun keine Kinder bekommen kann. Ja würde auch eine junge Frau aus Zürich sagen, Antibaby Iwelche das Produkt Yasmin (ebenfalls den Wirkstoff Drospirenon enthaltend) eingenommen hat und in der Folge eine Lungenembolie erlitt und seither, und für den Rest ihres Lebens, schwerst behindert ist. Ja würden auch alle jene Frauen sagen, welche an einer schwerwiegenden Embolie nach Einnahme der Antibabypille (vorab, aber nicht ausschiesslich, den Wirkstoff Drospirenon enthaltend) tatsächlich gestorben sind.

Nein würden alle Hersteller dieser Produkte sagen, und darauf hinweisen, dass durch wissenschaftliche Daten bestätigt (oder erwiesen) sei, dass bei korrekter Einnahme und Anwendung der Antibabypille keine gesundheitliche Gefahr für die Anwenderin bestehen würde. Diese Aussage ist nun leider in ihrem Kern nicht zutreffend.

Dazu sollte man wissen, dass selbst bei völlig korrekter Anwendung durch die Patientin schwerwiegende venöse thromboembolische Ereignisse (VTE), manchmal mit fatalem Ausgang, eine bekannte, jedoch sehr seltene Nebenwirkung kombinierter oraler Kontrazeptiva (KOK) sind, auf die übrigens in der Regel in den Produktinformationen dieser Arzneimittel hingewiesen wird. Nach Angaben verschiedener Zulassungsbehörden, insbesondere auch des deutschen Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), beträgt die Häufigkeit schwerwiegender VTE’s für Anwenderinnen, bei denen keine Risikofaktoren für VTE bekannt sind und welche KOK mit niedrigem Estrogengehalt (<50 μg Ethinylestradiol) anwenden, bei etwa 20 Fällen pro 100’000 pro Jahr für levonorgestrelhaltige KOK und bei bis zu 40 Fällen pro 100’000 pro Jahr für desogestrel- oder gestodenhaltige KOK. Unter die letzteren fallen die Produkte der neuen, sogenannten vierten Generation der Antibabypillen, welche den Wirkstoff  Drospirenon enthalten. Das Risiko für eine schwerwiegende VTE scheint also mit Produkten der neuesten Generation der Antibaby-Pillen etwa zweimal höher zu liegen als mit älteren Produkten. Das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Ereignisse in der Anwenderinnen-Population sehr selten sind. Wir sollten hier auch wissen, dass in der allgemeinen Population (d.h., bei Nichtanwenderinnen von Antibabypillen) die natürliche Häufigkeit für VTE’s immerhin 5 bis 10 Fälle pro 100’000 pro Jahr beträgt. In der Schwangerschaft kommen immerhin zirka 60 Fälle von VTE’s pro 100’000 Schwangerschaften vor. Die genannten Zahlen sind epidemiologischer Natur und zeigen nur, dass über die gesamte Gruppe der Frauen, welche eine Antibabypille verwenden, das Risiko für das Auftreten einer schwerwiegenden VTE sehr klein ist. Interessant ist auch zu wissen, dass bei Frauen nach der Menopause, welche eine Hormonersatztherapie (HRT) erhalten, etwa 80 bis 120 Fälle schwerwiegender VTE’s per 100’000 Frauen pro Jahr auftreten.

Es ist unendlich viel schwieriger, als einzelne Patientin abzuschätzen, ob man als Individuum von diesem Risiko betroffen sein könnte. Natürlich wird der konsultierte oder behandelnde Frauenarzt darauf hinweisen, dass Patientinnen die rauchen, sich wenig bewegen, übergewichtig sind oder vorbestehende Venenprobleme haben, hormonelle Verhütungsmethoden gar nicht oder nur nach genauer Absprache mit dem Arzt anwenden sollten. Er könnte vor einer Verschreibung der Pille einige diagnostische Abklärungen biochemischer und/oder klinisch chemischer Art vornehmen, welche das vorexistierende Blutgerinnungsverhalten der Patientin bestimmen könnte. Im weiteren könnte der Arzt auch individuelle genetische Faktoren abklären lassen, welche in gewissen Fällen eine erhöhte Tendenz zur Blutgerinnung (VTE’s) begründen. Darüber sollte sich eine künftige erstmalige Anwenderin einer Antibabypille möglicherweise gut informieren (oder informieren lassen). Eine neuere, umfassende Übersichtsarbeit in PEDIATRICS (Volume 127, Number 2, February 2011)

Faktor V Leiden / Prothrombin Raten für erstmaliges Auftreten einer VTE
Faktor V Leiden / Prothrombin Raten für erstmaliges Auftreten einer VTE

führt sowohl die möglichen erworbenen und die vererbten (dh., genetisch bedingten) Risikofaktoren auf, welche auf der individuellen Ebene (dh. bei jeder einzelnen Patientin) zu einer VTE führen könnten. Die wichtigsten genetischen Varianten, welche zu erhöhtem Risiko für schwerwiegende VTE’s bei deren Trägerinnen führen, betreffen die Faktor V Leiden Punkt Mutation R506Q sowie die Factor II (Prothrombin) Mutation G20210A; weitere mit Thrombophilie assoziierte genetische Risikofaktoren betreffen die Gene für Protein-C, Protein-S, und Antithrombin (siehe auch die beiliegende Tabelle, aus der oben erwähnten Übersichtsarbeit stammend).

Was würde uns die Kenntnis dieser Faktoren sagen?  Als Beispiel können wir eine 17-jährige junge Frau nehmen, welche ein Grundrisiko von 1 bis 10 spontaner VTE’s pro 100’00 Frauen pro Jahr hat. Ihr Risiko für eine VTE bei Einnahme von KOK’s steigt etwa 5-fach auf nun 5 bis 50 VTE pro 100’000 Frauen pro Jahr (etwa 0.05% pro Jahr). Sollte diese junge Frau nun eine Trägerin der Faktor V Leiden Punkt Mutation R506Q sein, steigt ihr Risiko für eine VTE etwa 35-fach an und beträgt nun etwa 350 VTE’s pro 100’000 Frauen pro Jahr (etwa 0.35% pro Jahr). Epidemiologisch wie auch individuell gesehen ist das immer noch ein sehr kleines Risiko. Allerdings könnte die Patientin dieses kleine, leicht erhöhte persönliche Risiko für eine VTE weiter vermindern, indem sie sich für alle angesprochenen genetischen Risikofaktoren testen lassen und bei positivem Resultat für einen oder einer Kombination dieser Faktoren vorsichtshalber auf die Einnahme von KOK’s verzichten würde. Die entsprechenden Drospirenon-haltigen Produkte im deutschsprachigen Raum sind unter den Handelsnamen aida, Aliane, Yasmin, Yasminelle, YAZ, Yirala, und Angeliq erhältlich. Es gibt dazu bereits auch Generika.

Es scheint also so zu sein, dass selbst bei grossem diagnostischem Aufwand, vorausschauend das Risiko für eine VTE, welche nach Einnahme von KOK’s auftreten könnte, für einzelne Individuen kaum festzumachen ist. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das allfällige Auftreten von VTE’s eine inhärente Eigenschaft von KOK’s ist, mit leicht erhöhtem Risiko mit Drospirenon-haltigen Produkten. Man könnte von einem real existierenden Restrisiko sprechen. Nach dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sollen in den letzten 15 Jahren in Deutschland 478 Thrombose-Verdachtsfälle gemeldet worden sein, bei vielen Millionen von Frauen die drospirenonhaltige Produkte einnahmen. Sechzehn (16) von diesen Frauen starben. Das sind natürlich 16 Frauen zuviel, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, dass die “Pille”, obwohl sie natürlich ein Medizinprodukt ist und bleibt, immer mehr zum Lifestyle-Produkt wird; es gibt Präparate, die das Hautbild verbessern, Brüste wachsen lassen und bei der Gewichtsabnahme helfen.

Wie könnte dieses Restrisiko sinnvollerweise gehandhabt werden? Verbot und/oder Marktrückzug wäre eine Massnahme. In Frankreich wurde ein ähnliches Produkt, Diane 35, von der Arzneimittelaufsicht ANSM vom Markt genommen. In Deutschland und der Schweiz klagen Betroffene und/oder ihre Angehörigen gegen die Hersteller. Diese wiederum verschanzen sich hinter der lapidaren Anmerkung “bei korrekter Einnahme kein Risiko”. Damit suggerieren die Hersteller, dass die Patientinnen selber schuld seien. Dies ist definitiv nicht der Fall, wie wir oben gesehen haben. Vielleicht könnten sich die Hersteller zu einem Fonds durchringen, aus welchem Betroffene ohne die Notwendigkeit zu Klagen entschädigt werden könnten.

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Professor in Pharmakologie und Toxikologie. Experte in theragenomischer und personalisierter Medizin und individualisierter Arzneimittelsicherheit. Experte in Pharmako- und Toxiko-Genetik. Experte in der klinischen Sicherheit von Arzneimitteln, Chemikalien, Umweltschadstoffen und Nahrungsinhaltsstoffen.